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Albanien
Steiniger Weg in die EU

Autor: Dr. Klaus Fiesinger

Albanien befindet sich an einem entscheidenden Punkt seines Weges zur Europäischen Union. Einerseits kann das westbalkanische Land im Jahr 2019 auf zehn Jahre NATO-Mitgliedschaft zurückblicken, andererseits steht die angestrebte EU-Mitgliedschaft immer noch aus. Im Mai 2019 empfahl die Europäische Kommission Beitrittsgespräche mit Albanien noch in diesem Jahr zu beginnen.

Eine Gruppe von Personen, darunter Olliver Jörg, Generalsekretär der Hanns-Seidel-Stiftung, Dr. Klaus Fiesinger, Regionalleiter der Hanns-Seidel-Stiftung für Südosteuropa, und Büroleiterin Nertila Mosko

In Tirana besprach Oliver Jörg, Generalsekretär der Hanns-Seidel-Stiftung, mit Dr. Klaus Fiesinger, Regionalleiter der HSS für Südosteuropa, und Büroleiterin Nertila Mosko die Projektarbeit in Albanien

HSS

Bundestag stimmt EU-Beitrittsverhandlungen unter Bedingungen zu

Der Bundestag hat am 26. September 2019 dem Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD zu EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien zugestimmt, allerdings unter der Voraussetzung der Realisierung eines Neun-Punkte-Plans.

Die Bundesregierung wird beim Europäischen Rat im Oktober der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien nur dann zustimmen, wenn sie die Erfüllung einiger wesentlicher Bedingungen durch Albanien festgestellt hat. So soll unter anderem die Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichtshofes durch die Ausstattung mit einer angemessenen Anzahl überprüfter Richter und Staatsanwälte sichergestellt werden. Ferner müsse eine Wahlrechtsreform beschlossen, die Parteien- und Wahlkampffinanzierung transparent gemacht und der anhaltenden Korruption nachhaltig entgegengewirkt werden.

Albaniens Ministerpräsident Edi Rama, zugleich Vorsitzender der Sozialistischen Partei (SP), war in diesem Zusammenhang bereits am 13. September zu Gesprächen nach Berlin gereist, um dort mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und im Bundestag mit Mitgliedern des Ausschusses für EU-Angelegenheiten den im Mai 2019 veröffentlichten Fortschrittsbericht der EU-Kommission zu diskutieren. In diesem waren trotz der grundsätzlich positiven Empfehlung eine Reihe von negativen ungelösten Faktoren aufgelistet, die einen EU-Beitritt des Westbalkan-Landes dezidiert in Frage stellen. Insbesondere die Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zögern zu Recht, Albanien die Tür zur EU-Mitgliedschaft zu öffnen, bevor grundlegende politische und institutionelle Defizite in Albanien beseitigt sind.

Vor diesem Hintergrund befand sich der Generalsekretär der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS), Oliver Jörg, in der Zeit vom 1. bis 3. Oktober zu einem Arbeitsbesuch in der albanischen Hauptstadt Tirana, um dort politische Gespräche zu führen und sich von Projektpartnern der HSS-Vertretung in Albanien über die Projektaktivitäten informieren zu lassen.

Keine übereilten Beitrittsversprechen

In einer Pressemitteilung vom 15. Oktober erteilt der stv. HSS-Vorsitzende, Markus Ferber, MdEP, übereilten Beitrittsversprechen für Albanien eine Absage

"Bevor mit einem Mitgliedstaat Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden, müssen einige grundlegende Kriterien erfüllt werden. Dazu zählt beispielsweise ein funktionierendes Justizsystem, eine leistungsfähige Verwaltung und gewisse Mindeststandards im Bereich Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Kriminalitätsbekämpfung." Diese Punkte sieht der stellvertretende HSS-Vorsitzende in Albanien als nicht erfüllt an. Für Beitrittsgespräche sei es damit definitiv zu früh. Ferber konkretisiert:

Verfassungsgericht praktisch handlungsunfähig, Opposition hat die Arbeit im Parlament eingestellt

"Das albanische Verfassungsgericht ist seit Jahren nur mit einer Person besetzt und de facto handlungsunfähig, bei jeder Wahl gibt es Manipulationsvorwürfe, die Regierungspartei will den Staatspräsidenten seines Amtes entheben und die Opposition hat inzwischen die Arbeit im Parlament eingestellt. Das politische System Albaniens ist weit von den Standards entfernt, die wir uns von einem EU-Beitrittskandidaten wünschen", sagt er. Aus europäischer Sicht gelte es fraglos, die Balkanstaaten langfristig an Europa zu binden. Das liege auch im geopolitischen Interesse der EU. Zu einem ehrlichen und respektvollen Umgang miteinander gehöre aber auch, dass man eben keine falschen Hoffnungen wecke, wo sie nicht gerechtfertigt seien. Solange daher nicht alle Vorbedingungen durch Albanien erfüllt würden, brauche es glaubwürdige Instrumente unterhalb der EU-Vollmitgliedschaft, die für die beitrittswilligen Länder attraktiv seien und echte Fortschritte bei der Annäherung mit sich brächten. Hier müssten Kommission und Mitgliedstaaten kreative Lösungen entwickeln, ist Ferber der Ansicht.

Albanien arbeitet an Reformen

Albaniens Justizministerin, Etilda Gjonaj (SP), versicherte dem HSS-Generalsekretär, dass in dem seit zwei Jahren funktionsuntüchtigen Verfassungsgericht und auch im Obersten Gericht bis Ende Oktober die vakanten Positionen nachbesetzt würden und damit eine der wesentlichen Forderungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Start der albanischen EU-Beitrittsverhandlungen erfüllt sein würde. Den bestehenden Korruptionsvorwürfen im Beamtenapparat aufgrund des niedrigen Lohnes begegne die albanische Regierung unter anderem mit der Anhebung der Gehälter für Richter und Staatsanwälte.

Die stellvertretende albanische Innenministerin, Rovena Voda (SP), betonte die Bereitschaft der Regierung, auch im Sektor „Innere Sicherheit“ weitere wesentliche Reformen durchzuführen, die Polizeiausbildung zu modernisieren und den Grenzschutz zu optimieren. Tiranas Bürgermeister, Erion Veliaj (SP), präsentierte seine Stadt als bürgerfreundlich und umweltorientiert.

Lulzim Basha vertritt eine eigene Meinung

Während die Vertreter der Sozialistischen Regierungspartei ein positives Image Albaniens als zukunfts- und EU-orientiertes Land vermittelten, wurde dies vom Vorsitzenden der oppositionellen Demokratischen Partei Albaniens, Lulzim Basha (DP), nivelliert. Die aus den Parlamentswahlen von 2017 mit absoluter Mehrheit hervorgegangene sozialistische Regierung Rama führte, so der Vorwurf Bashas, zur Schaffung einer offenen und direkten Verbindung zu den Oligarchen. Privatisierungen, Ausschreibungen, Konzessionen, öffentliche Arbeiten entsprächen nach wie vor nicht dem von der EU geforderten Standard. Ämterpatronage, Ineffizienz und Missmanagement einer politisch gefärbten Verwaltung seien die Konsequenzen. Lulzim Basha wirft Ramas Regierung Korruption, Wahlbetrug, Stimmenkauf und Verbindungen zur Organisierten Kriminalität mit expansivem Drogenschmuggel vor. Er fordert nach wie vor die Bildung einer Expertenregierung, die Neuwahlen organisieren soll, um damit der als explosiv eingeschätzten Stimmung innerhalb der Gesellschaft Albaniens entgegenzuwirken.  

Schwierige politische Situation

Die parteilichen Fronten sind verhärtet. Albanien befindet sich in einer politischen Krise. Der Zustand der Demokratie ist besorgniserregend. Für einen raschen Verhandlungsbeginn über den EU-Beitritt Albaniens sind dies keine guten Voraussetzungen. Die beiden großen Antagonisten „Sozialistische Partei“ (SP) mit Ministerpräsident Edi Rama und „Demokratische Partei“ (DP) mit Oppositionsführer Lulzim Basha finden im Moment zu keinem demokratisch-parlamentarischen Dialog. Mitte Februar 2019 hatten die Oppositionsparteien DP und die „Sozialistischen Bewegung für Integration“ (LSI) in einem bis dahin beispiellosen Schritt die Niederlegung ihrer Parlamentsmandate verkündet. Sie begründeten ihn damit, nicht länger als „Schaufensteropposition eines undemokratischen Regimes“ dienen zu wollen und versuchten damit – allerdings ohne Erfolg – den Rücktritt von Ministerpräsident Rama zu erzwingen. Die frei gewordenen Mandate wurden von beiden Parteien nur zum Teil nachbesetzt. Seitdem erfolgt die Oppositionsarbeit vor allem auf der Straße.

Ein Reiterstandbild auf einem steinernen Podest, das auf das albanische Nationalmuseum zeigt

Der Europäische Rat vertagte im Juni seine Entscheidung über Beitrittsgespräche mit Albanien auf Oktober. 2019. Die innenpolitische Situation des Landes ist fragil

HSS/Albanien

Boykott der Lokalwahlen

Auch die Kommunalwahlen vom 30. Juni wurden von der Oppositionsparteien DP und LSI boykottiert, aber von der SP trotzdem durchgeführt. Infolge dieses Boykotts hatten in 31 von insgesamt 61 Gemeinden die Anwärter auf das Bürgermeisteramt keinen Gegenkandidaten. Die Wähler hatten dort keine Alternative. Die Wahlbeteiligung lag nach offiziellen Angaben der zentralen Wahlbehörde bei 22,96 Prozent, nach den Berechnungen der Opposition lag sie bei 15,12 Prozent. Der überwiegende Teil dieser Wählerschaft kam vom Öffentlichen Dienst der albanischen Behörden und Ministerien. In den OSZE-Empfehlungen vom 5. September 2019 zu den jüngsten albanischen Kommunalwahlen wird deutlich Kritik geübt und aufgerufen zur Stärkung demokratischer Institutionen, zu freien und geheimen Wahlen, zur pflichtgemäßen Verwendung öffentlicher Finanzmittel und zur Unabhängigkeit der Medien.

Der angekündigte Boykott von DP und LSI, eigene Bürgermeisterkandidaten bei den Lokalwahlen aufzustellen, hatte Staatspräsident Ilir Meta dazu veranlasst, am 10. Juni per Dekret unter Berufung auf Bedenken hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit und aufgrund seiner verfassungsmäßigen Verantwortung, den Pluralismus zu schützen, diese Wahlen auf den 13. Oktober zu verschieben, um die politischen Parteien doch noch zu einem Kompromiss zu bewegen. Ohne Beteiligung der Opposition seien, so Meta, keine demokratischen und repräsentativen Wahlen möglich. Ministerpräsident Rama und mit ihm das albanische Parlament erklärten das Präsidialdekret für nichtig. Auch die zentrale Wahlkommission beharrte auf dem ursprünglichen Termin. Mehr noch: Die Regierung leitete daraufhin ein Untersuchungsverfahren gegen den Staatspräsidenten ein, um ihn seines Amtes zu entheben. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Eine Entscheidung obliegt dem albanischen Verfassungsgericht. Diese wird es in nächster Zeit wegen dessen mangelnder Funktionalität nicht geben.

Funktionsuntüchtige Judikative

Seit Beginn des Jahres 2018 wird der sogenannte „Vetting-Prozess“ durchgeführt, eine Überprüfung aller Richter und Staatsanwälte im Rahmen der Justizreform bezüglich ihrer personellen und vermögensrechtlichen Integrität und Professionalität. Das führte dazu, dass seit jenem Zeitpunkt viele Gerichte unterbesetzt und funktionsuntüchtig sind. Besonders eklatant ist die Tatsache, dass das albanische Verfassungsgericht seit zwei Jahren mit nur einer Person besetzt und damit funktionsuntüchtig ist. Daraus folgt, dass die parlamentarische Opposition nicht über die Möglichkeit einer höchstrichterlichen Überprüfung der Entscheidungen der Exekutive verfügt. Nachdem vor einigen Wochen der Präsident des Obersten Gerichts Albaniens entlassen worden war und ein dreiköpfiges „Rumpfgremium“ eingesetzt wurde, geraten alle zivil,- straf- und verwaltungsprozessualen Angelegenheiten noch mehr ins Stocken, als dies bisher ohnehin schon der Fall war. Somit befindet sich Albanien in einer Situation ohne funktionierende Judikative und ohne parlamentarische Opposition. Die Empfehlungen der „Venedig-Kommission“ beziehen sich deshalb auf eine effektive Implementierung der Justizreform als „conditio sine qua non“ für den EU-Beitritt Albaniens. Eine Anbindung Albaniens an den Westen beziehungsweise an die Europäische Union ist das einzige Kriterium, in dem sich beide politischen albanischen Lager einig sind. Laut Umfragen wünschen sich über 90 Prozent der albanischen Bevölkerung eine EU-Mitgliedschaft.  

Rund 800 Richter und Staatsanwälte werden im Zuge dieses „Vetting-Prozesses“ einem Überprüfungsverfahren unterzogen. Sollten sie sich als korrupt oder vorbelastet erweisen, dürfen sie keine Zulassung mehr erhalten. Mit der richterlichen Überprüfung sollte schon 2017 begonnen werden, allerdings kam es ständig zu neuen Verzögerungen. Im Jahr 2018 begann endlich die praktische Implementierung. Die „Unabhängige Qualifizierungskommission“ kam bis März 2019 zu folgenden Entscheidungen: Von insgesamt 107 Richtern und Staatsanwälten, die bis dahin das Kontrollverfahren absolvieren mussten, wurden 48 im Amt bestätigt, 44 entlassen. 15 Richter sowie mehrere Leiter von verschiedenen Bezirksgerichtshöfen und Bezirksstaatsanwaltschaften traten freiwillig zurück.

Albanien bleibt politisch polarisiert

Albanien bleibt nach wie vor ein politisch in hohem Maße polarisiertes Land. Bis Mitte des Jahres protestierten diverse gesellschaftliche Gruppen, darunter auch Studenten, gegen soziale Missstände. Besonders eklatant offenbarte sich dies in den Studentenprotesten Anfang 2019 gegen das albanische Bildungssystem, das nach Meinung der Demonstranten nur wenig Hoffnung für eine berufliche Beschäftigung ohne politische Unterstützung biete.

Die hohe Arbeitslosenrate und ein mangelndes Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des Landes haben zu großer Unzufriedenheit und zu einer immer noch ungebremsten Ausreisewilligkeit besonders bei den Jugendlichen, geführt. Laut Umfragen möchte über 60 Prozent der jungen Bevölkerung Albaniens das Land verlassen.

Die USA, Brüssel und einige internationale Partner haben den Mandatsverzicht der Opposition kritisiert – sie unterminiere den EU-Integrationsprozess Albaniens. Die Niederlegung der Mandate behindere das Funktionieren der Demokratie in Albanien, widerspreche dem Willen der Wähler und sei «kontraproduktiv», warnten Außenbeauftragte Federica Mogherini und Erweiterungs-Kommissar Johannes Hahn in einer gemeinsamen Erklärung im Frühjahr 2019. Sie riefen Opposition und Regierung auf, einen «konstruktiven Dialog» aufzunehmen. Dieser hat bisher nicht stattgefunden und eine politische Einigung scheint vorerst nicht in Sicht zu sein.

Südosteuropa
Armin Höller
Leiter
Büro Albanien Hanns-Seidel-Stiftung
Dr. Klaus Fiesinger
Projektleitung