Print logo

Interview mit Sokol Sadushi, Präsident des obersten Gerichts der Republik Albanien
Justizreform: Ein Schritt in Richtung EU-Beitritt

Autor: Dr. Klaus Fiesinger

Albanien befindet sich gerade im Prozess der Angleichung seiner Gesetze an die Standards der EU zur Durchsetzung und Absicherung eines von politischen Einflüssen unabhängigen Rechtssystems. Im Zuge der konkreten Optimierung der von der EU-Kommission geforderten Justizreform befand sich in der Zeit vom 18. bis 20. Oktober eine Delegation des Obersten Gerichts von Albanien auf Einladung der Hanns-Seidel-Stiftung in München.

Der Studienaufenthalt bot der Delegation des Obersten Gerichts von Albanien, der höchsten Instanz der Zivil, - Straf- und Verwaltungsgerichte, Gelegenheit für Einblicke und Vergleichsmöglichkeiten in legislative, materiell-rechtliche und prozessuale Fachbereiche der für diese Bereiche zuständigen Justizinstitutionen in Bayern.

Die albanische Delegation in einem Gerichtssaal

Die Delegation des höchsten Albanischen Gerichts. Es ist die letzte Instanz der Zivil, - Straf- und Verwaltungsgerichte des Landes.

HSS

Enge Kontakte, gute Kooperation

Darüber hinaus bot sich für die Delegation die Chance, als Vertreter des EU-Beitrittskandidaten Albanien Kontakte und Kooperationen mit dem Bayerischen Justizministerium, mit dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof, mit dem Oberlandesgericht München und mit dem dortigen Bundespatentgericht auszuloten.

Hauptfragen der Diskussionen bezogen sich unter anderem auf die Abgrenzung von Ordentlicher Gerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit, auf die Zulassungskriterien der Revision, auf die Kategorisierung privat- und öffentlich-rechtlicher Verfahren oder auf die Normenkontrolle im Verwaltungsrecht.

Eine Intensivierung des fachpraktischen Austausches mit Albanien liegt, wie die Gespräche im Justizministerium ergaben, auch im Interesse Bayerns. Im Juli dieses Jahres fand in Tirana die konstituierende Sitzung der Bayerisch-Albanischen gemeinsamen Regierungskommission statt, bei der eine bayerische Unterstützung bei der Rechtsanpassung Albaniens an EU-Standards thematisiert worden war.

Seit 2006 besteht eine Kooperation mit dem albanischen Verfassungsgericht zur Fortbildung von Juristen im Hinblick auf die institutionelle Stärkung des Verfassungsgerichts als Garant für Menschen- und Bürgerrechte.

Seit 2006 besteht eine Kooperation mit dem albanischen Verfassungsgericht zur Fortbildung von Juristen im Hinblick auf die institutionelle Stärkung des Verfassungsgerichts als Garant für Menschen- und Bürgerrechte.

HSS

Wann kommt die Justizreform?

Ein von Transparenz und Effizienz geprägtes reformorientiertes Justizsystem ist ein wesentlicher Garant für Demokratie und Rechtstaatlichkeit und steht daher seit bereits über 30 Jahren, seit Eröffnung einer Repräsentanz der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) in Tirana 1992, im Zusammenwirken mit albanischen Partnerinstitutionen im Fokus unserer Projektarbeit.

Seit 2006 besteht eine Kooperation mit dem albanischen Verfassungsgericht zur Fortbildung von Juristen im Hinblick auf die institutionelle Stärkung des Verfassungsgerichts als Garant für Menschen- und Bürgerrechte.  Dies umso mehr angesichts der Tatsache, dass das Primat von Verfassungsnormen die Grundlage rechtsstaatlicher Theorie und Praxis bedeutet. Mit Unterstützung des HSS-Büros in Tirana bietet das Verfassungsgericht fachliche Qualifizierung zu materiell-rechtlichen und prozessualen Themen an und trägt durch gemeinsame Kolloquien und Publikationen zur Reflexion höchstrichterlicher Fragestellungen bei.

Im Jahre 2013 konnte die HSS das Oberste Gericht Albaniens als weiteren hochrangigen Kooperationspartner hinzugewinnen.  

Mit bedarfsorientierten Seminaren und komplementären Studienreisen der Richterakademie für Nachwuchsrichter und junge Staatsanwälte, mit der das HSS-Büro in Tirana ebenfalls seit längerem kooperiert, wird unser Beitrag zur Unterstützung im Rechtssektor Albaniens im Sinne der intendierten und zu implementierenden Justizreform abgerundet.

Denn grundlegende Voraussetzung für Albaniens angestrebten EU-Beitritt ist die Verwirklichung der vom albanischen Parlament bereits 2016 parteiübergreifend beschlossenen, aber mit Verzögerungen erst 2018 begonnenen Justizreform.

Es wird wohl eine Änderung der Verfassung notwendig sein, um den politischen Einfluss auf die Justiz Albaniens zu beenden.

Es wird wohl eine Änderung der Verfassung notwendig sein, um den politischen Einfluss auf die Justiz Albaniens zu beenden.

HSS

Entpolitisierung der Justiz

Kernelemente dieser Justizreform sind nicht nur Verfassungsänderungen und institutionelle Anpassungen zur Entpolitisierung der Justiz, sondern auch der sogenannte „Vetting-Prozess“, eine Überprüfung aller Richter und Staatsanwälte bezüglich ihrer qualitativen und vermögensrechtlichen Professionalität und Integrität. Er obliegt einer internationalen Beobachtung durch die sogenannte „Venedig-Kommission“. Bis September dieses Jahres wurden circa dreiviertel aller 800 Richter und Staatsanwälte einer diesbezüglichen Prüfung unterzogen, wobei dies in fast 60 Prozent der Fälle zu staatlich angeordneten Entlassungen, Kündigungen oder freiwilligen Rücktritten geführt hat. Negative Folgen dieses „Selbstreinigungspozesses“ war die zeitweise Stagnation der Arbeit der Gerichte auf allen Instanzen mangels notwendiger personeller Nachbesetzungen. 

Davon waren auch das Verfassungsgericht und das Oberste Gericht Albaniens betroffen, die in personeller Unterbesetzung fast drei Jahre funktionsuntüchtig und insofern entscheidungsblockiert waren. Dieser Missstand ist mittlerweile von der albanischen Justiz beseitigt und beide Höchstgerichte wieder in vollem Umfang präsent und funktionsfähig.

Angemessen und notwendig zur Bearbeitung aller rechtlichen Delikte, insbesondere auch zur von der EU-Kommission in ihren jährlichen Fortschrittsberichten weiterhin angemahnten Bekämpfung von Korruption und Organisierter Kriminalität, ist diese nun wiederhergestellte  volle Funktionalität der Justiz auch vor folgendem aktuellen Hintergrund:

Acht Jahre nach Erhalt eines EU-Kandidatenstatus im Juni 2014 erfolgte im Juli 2022 endlich der Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien. Im Zuge der ersten internationalen Regierungskonferenz wurde dem üblichen Prozedere entsprechend die sogenannte Screening-Phase eingeleitet, in der geprüft wird, inwieweit Albaniens Gesetzgebung dem „Aquis Communautaire“, also den bestehenden Rechtsregularien der EU, angeglichen werden muss.   Erst nach dieser umfassenden rechtlichen Bestandsaufnahme kann mit den Kapitelverhandlungen im Rahmen der sechs grundlegenden Cluster begonnen werden, wobei  wie auch bei EU-Beitrittsverhandlungen mit anderen Staaten des Westbalkans die Kapitel 23 und 24 bezogen auf Grundrechte und Justiz als „Fundamentals“ im Vordergrund stehen.  Der seit 19. Juli 2022 laufende „Screening-Prozess“ ist noch in vollem Gange, eine Bewertung der EU-Kommission zu den „Fundamentals“ im „Cluster 1“ vom Juli dieses Jahres bescheinigt Albanien gewisse Fortschritte, mahnt aber auch weitere Anstrengungen an, um eine effiziente Rechtsdurchsetzung sicherzustellen und die Leistungsfähigkeit der Verfassungsorgane zu festigen, um somit das Vertrauen der albanischen Bevölkerung in die Justiz zu stärken.

Der Besuch der Delegation des Obersten Gerichts Albaniens in München erfolgte somit zum richtigen Zeitpunkt einer ambitionierten und aufstrebenden, aber derzeit noch nicht vollständig reformierten und konsolidierten Justiz am Beginn eines noch langen Weges, den Albanien zu beschreiten gewillt ist, um am Ende des Beitrittsprozesses die EU-Mitgliedschaft zu erhalten.

Dr. Sokol Sadushi, Präsident des obersten Gerichtshofes der Republik Albanien

Dr. Sokol Sadushi, Präsident des obersten Gerichtshofes der Republik Albanien

HSS

Mit dem Leiter der albanischen Delegation in München, dem Vize-Präsidenten des Obersten Gerichts, Herrn Professor Dr. Sokol Sadushi, hat Dr. Klaus Fiesinger, HSS-Regionalleiter für Südosteuropa, ein Interview geführt:

HSS: Welche Kernelemente beinhaltet die seit 2018, also seit fünf Jahren, bestehende umfassende Justizreform Albaniens in Bezug auf Rechtstaatlichkeit und Demokratie? 

Dr. Sokol Sadushi: Aufgrund der Kennzeichnung der albanischen Justiz als ineffizient und von politischem Druck und Einfluss, Drohungen und Korruption betroffen, war eine Justizreform die einzige, aber notwendige Lösung, um das Ziel einer unabhängigen, unparteiischen, effektiven und rechenschaftspflichtigen Justiz zu erreichen. Die im Juli 2016 beschlossenen Verfassungsänderungen zur Reform des Justizsystems zeigten erste Wirkung nach der Verabschiedung des Gesetzespakets durch das Parlament und dem Beginn ihrer Umsetzung mit der Gründung neuer Institutionen im Jahr 2018. Um ein unabhängiges, professionelles und zuverlässiges Justizsystem aufzubauen konzentrierte sich die Reform auf die Vermeidung politischer Einflussnahme auf das System, die Neudimensionierung der Befugnisse der Verfassungsorgane, die Suche nach Entsperr-Mechanismen in Entscheidungsprozessen und  Neudefinition der Regeln für die Ernennung oder Wahl hochrangiger Richter auf der Grundlage transparenter und effizienter Verfahren sowie klarer, professioneller und ethischer Kriterien. Diese tiefgreifende Reform des Systems hing mit der Notwendigkeit zusammen, die Korruption zunächst im Justizsystem zu bekämpfen, dann auf andere Bereiche ausdehnen, durch zunehmende Professionalität von Richtern und Staatsanwälten, Erhöhung der Verantwortung und Rechenschaftspflicht der Richter auf allen Ebenen, beginnend mit der vorübergehenden Neubewertung, einer Art außerordentlicher Überprüfung (Vetting), bis hin zur regelmäßigen Kontrolle durch die zu diesem Zweck im Justizsystem eingerichteten Institutionen. In dieser Hinsicht ist die Einrichtung spezialisierter Antikorruptionsstrukturen (SPAK-BKH) innerhalb des Justizsystems die Lösung, die natürlich auf eine tiefgreifende Reformierung nicht nur des Justizsystems, sondern der Funktionsweise aller staatlichen Organe hoffen lässt.

Dr. Sokol Sadushi, Präsident des obersten Gerichtshofes der Republik Albanien

Dr. Sokol Sadushi, Präsident des obersten Gerichtshofes der Republik Albanien

HSS

Dr. Sokol SADUSHI wurde am 27. Juli 1963 geboren. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. 1986 schloss er sein Studium an der juristischen Fakultät der Universität Tirana ab. Er war als Staatsanwalt, Universitätsdozent, Rechtsanwalt und Mitglied des Verfassungsgerichts tätig.

Im Jahr 1991 begann er als Dozent für Verwaltungsrecht an der Juristischen Fakultät und ab 1997 an der School of Magistrate in Tirana zu lehren. Im Jahr 2006 erhielt er den wissenschaftlichen Grad „Doktor der Rechtswissenschaften“ und im Jahr 2013 den Titel eines Prof. Assoc. Dr.

Er ist Autor zahlreicher Studien und Artikel im Bereich Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht und Menschenrechte. Er veröffentlichte die Bücher „Verwaltungsrecht 2“, „Verfassungskontrolle“, „Verfassungsjustiz in der Entwicklung“, „Verwaltungsgericht und Rechtskontrolle über die Verwaltung“, „Verfahrensverwaltungsrecht“. Er ist außerdem Mitautor der Bücher „Kommentar zur Verwaltungsprozessordnung“, „Vergleichende Sicht auf den Zivilprozess“, „Fragen des Verwaltungsrechts in vergleichender Sicht“, Kommentar „Zur Verfassungsreform in der Justiz (2016)“.

Im April 1998 wurde Sokol Sadushi vom Parlament Albaniens zum Richter des Verfassungsgerichts gewählt, eine Position, die er im Juli 2011 abschloss. Von Mai 2013 bis Juli 2014 war er Rektor der nichtöffentlichen Oberschule „Luarasi“. Im November 2014 wurde er zum Direktor der School of Magistrate gewählt, eine Position, die er bis März 2020 innehatte.

Mit Dekret Nr. 11452 des Präsidenten der Republik vom 11. März 2020 wird Richter des Obersten Gerichtshofs der Republik Albanien ernannt.

Die Generalversammlung der Richter des Obersten Gerichtshofs vom 7.7.2020 wählte Herrn Sokol Sadushi zum Vizepräsidenten dieses Gerichtshofs.

Die Generalversammlung der Richter des Obersten Gerichtshofs vom 17.10.2023 wählte Herrn Sokol Sadushi zum Vorsitzenden dieses Gerichts.

HSS: Wie beurteilen Sie den institutionellen und funktionalen Stellenwert des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichts vor diesem Hintergrund der noch nicht abgeschlossenen Justizreform, nachdem nun diese beiden juristischen Verfassungsorgane wieder ihre volle personelle Kapazität besitzen, die durch den sogenannten „Vetting-Prozess“ eine gewisse Zeitspanne lang eingeschränkt war?

Der Status der beiden höchsten Gerichte ist verfassungsrechtlich garantiert. Sie sind entsprechend den ihnen durch die Verfassung zugewiesenen Befugnisse mit der Wahrnehmung ihrer Aufgabe zur Wahrung der Verfassungsmäßigkeit (Verfassungsgerichtshof) und der Rechtmäßigkeit (Oberster Gerichtshof) beauftragt. Nachdem das Verfassungsgericht mit der vollen Richterzahl ausgestattet war, konnte es im Jahr 2022 seine Arbeit aufnehmen, der Oberste Gerichtshof dann im Jahr 2023. Das Verfassungsgericht, obwohl es keine wesentlichen Änderungen hinsichtlich des Verfassungsstatus erfahren hat, verfügt heute über alle Möglichkeiten, seine Funktion zur Verteidigung der Verfassungsmäßigkeit und der Rechte des Einzelnen wahrzunehmen. Seit 2017 ist die vollständige individuelle Verfassungsbeschwerde in Kraft getreten, die jedoch noch keine ordnungsgemäße Umsetzung gefunden hat. Der Oberste Gerichtshof, der auf einem tiefgreifenden reformierten Verfassungs- und Rechtsrahmen basiert, ist insbesondere  auf die Steigerung der Effektivität der Verfahrensregeln als auch auf die Erfüllung des verfassungsmäßigen Auftrags im Zusammenhang mit der Vereinheitlichung der Gerichtspraxis und der Rechtsauslegung fokussiert. Dies mit dem Ziel der Rechtsklarheit und -sicherheit im Land, was einer der im Laufe der Jahre festgestellten Mängel in der albanischen Rechtswirklichkeit war.

HSS: Seit Juli des vergangenen Jahres 2022 steht Albanien im Rahmen der sogenannten „Screening-Phase“ am Beginn des EU-Beitrittsverhandlungsprozesses, der mit dem Antrag Albaniens auf EU-Mitgliedschaft 2009 initiiert und mit der Verleihung des EU-Kandidatenstatus für Albanien 2014 manifestiert wurde. Welchen Einfluss, welche Auswirkung hat diese neue Dimension der Adaptierung albanischen Rechts an EU-Standards für das Oberste Gericht, dem Sie als Vize-Präsident vorstehen, und welche für das Verfassungsgericht, dessen Mitglied Sie früher ebenfalls waren?

Der Prozess der Angleichung der albanischen Gesetzgebung an die EU-Gesetzgebung hat schon vor Jahren begonnen, hat sich jedoch in jüngster Zeit intensiviert und ist dem Tempo der politischen Entscheidungen der EU gegenüber Albanien gefolgt. Die Rechtsreform selbst und alle im Rahmen ihrer Umsetzung verabschiedeten Gesetze orientierten sich nicht nur an der Gesetzgebung der EU-Länder, sondern teilweise auch an der Entwicklung der europäischen Gerichtsbarkeit. Allerdings wurde im Rahmen dieses Prozesses auch auf politischer und institutioneller Ebene eine Verhandlungs-gruppe eingerichtet, in der unter anderem das OG seine Vertreter hat, die über das Tempo der Entscheidungsfindung in zurückgebliebenen und laufenden Gerichtsfällen berichten, die im Zusammenhang mit der Vereinheitlichung der Gerichtspraxis stehen. Dies ist ein Prozess, der einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Das OG hat jedoch bereits vor der Albaniens EU-Mitgliedschaft Maßnahmen ergriffen, um sich besser an die EU-Standards anzupassen. Damit berücksichtigt es die höchsten Standards der EU, wenn es um die Auslegung von Gesetzen oder die Anwendung neuer Rechtsinstitute geht. Bei vereinheitlichenden Entscheidungen des OG werden EU-Standards, insbesondere in Angelegenheiten administrativer und zivilrechtlicher Natur berücksichtigt, um das höchste Niveau zum Schutz des Einzelnen im Rechtsstaat zu gewährleisten.

HSS: Der jüngste Screening-Bericht der EU-Kommission vom 20. Juli dieses Jahres hat der albanischen Justiz Reformfortschritte bescheinigt, aber auch noch nicht beseitigte materiell-rechtliche und prozessuale Defizite artikuliert und angemahnt, diese zügig zu korrigieren. Können Sie hierzu aus Sicht eines Vertreters des Obersten Gerichts konkret Stellung nehmen, welche Notwendigkeiten und Aufgaben nun noch generell und auch konkret im Rahmen der Verhandlungskapitel 23 und 24 anstehen?

Trotz der erheblichen Verbesserungen bei den materiellen und verfahrensrechtlichen Rechtsvorschriften, besteht nach wie vor ein dringender Bedarf, viele Gesetze im Straf-, Zivil-, Handels- und Verwaltungsbereich an das EU-Recht anzupassen, insbesondere in bestimmten Bereichen im Zusammenhang mit Handel, Steuerwesen, Umwelt, Landwirtschaft, Bildung usw. Einige der Probleme, bei denen Albanien in Bezug auf das Justizsystem noch viel zu tun hat, hängen hauptsächlich mit der Wirksamkeit des Gerichtsverfahrens zusammen, das jede angemessene Frist überschreitet. Dies ist auf die Probleme zurückzuführen, die in den Jahren vor der Reform entstanden sind, sowie auf die Entstehung zahlreicher nicht besetzter Stellen im Justizsystem aufgrund des Ausscheidens einer großen Zahl von Richtern und Staatsanwälten auf allen Ebenen. Trotz des höheren Tempos des Rückgabe- und Entschädigungsprozesses für enteignetes und verstaatlichtes Eigentum während des kommunistischen Regimes, das sich auf eine endgültige Lösung zubewegt, ist die Umsetzung von Gerichtsentscheidungen auch nach den Interventionen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg und des albanischen Parlaments ein problematisches Thema, was immer noch unzureichend ist. Ebenso wichtig ist auch die Notwendigkeit, die personellen und finanziellen Kapazitäten zu erhöhen, die zur Wirksamkeit und Effizienz der Rechtsdurchsetzung beitragen.

HSS: Der Besuch in München sollte der Delegation die Möglichkeit bieten, im Zuge der Optimierung der Justizreform Albaniens Einblicke und Erfahrungen der deutschen beziehungsweise bayerischen Justiz zu erhalten, um diese dann in Albanien zu nutzen und fachpraktisch umzusetzen. Wie beurteilen Sie den Aufenthalt in München, der ja von der Hanns-Seidel Stiftung, die mit dem Obersten Gericht seit 2013 eine enge Kooperation pflegt, vorbereitet und organisiert wurde? Welche Erkenntnisse nehmen Sie mit nach Hause?

Der 2-tägige Besuch in München war ein besonderes Erlebnis, der uns ermöglichte, einige der bedeutendsten Gerichtshöfe des Landes Bayern, aber auch Deutschlands kennenzulernen. Dieser Besuch wurde hervorragend von der Hanns-Seidel-Stiftung, einer der zuverlässigsten Partner des Justizsystems in Albanien organisiert. Der Meinungsaustausch mit den Kollegen des Oberlandesgerichts München und des bayerischen Verfassungsgerichtshofs sowie mit den Richtern des Bundespatentgerichts und die Fortsetzung der Gespräche im bayerischen Staatsministerium für Justiz hinterließen uns einen wichtigen Eindruck. Diskussionen zu Themen wie: Trennung  zwischen ordentlichen und Verfassungsgerichtsbarkeit, Abgrenzung zwischen Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision beim Oberlandesgericht, der Kontrollraum des Bundespatentgerichts als einziger und höchster Instanz innerhalb des Bereichs der  Patente, die Kriterien für die Zulassung und Gültigkeit diesbezüglicher Beschwerden und Klagen und vieles mehr dienten uns dazu, geeignetere Instrumente zu suchen und umzusetzen, die zu einer Steigerung der Wirksamkeit der Entscheidungsfindung im OG und folglich zu einer schnelleren und qualitativ hochwertigen Bereitstellung von Gerechtigkeit führen, was eine der Hauptbedingungen für die Vollmitgliedschaft Albaniens in der EU darstellt. Einige der angesprochenen Fragen, insbesondere im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit, scheinen aufgrund der Ähnlichkeit mit der deutschen Gesetzgebung direkte Auswirkungen auf die albanische Gerichtspraxis zu haben.

HSS: Was erhoffen Sie sich von einer weiteren Unterstützung durch die Hanns-Seidel-Stiftung und wie beurteilen Sie den bisherigen Stellenwert unserer Projektarbeit?

Die Hanns-Seidel-Stiftung ist, wie oben bereits erwähnt, ein verlässlicher und stabiler Partner. Dank der HSS haben die albanischen Gerichte im Laufe der Jahre durch runde Tische, bilaterale oder multilaterale Treffen sowie andere Veranstaltungen dieser Art von den besten deutschen Erfahrungen profitiert. Das OG bleibt, wie bisher, offen für eine weitere Zusammenarbeit und für die Fortsetzung des Austauschs der besten Erfahrungen mit den Gerichten der Region, die die Phase der Vorbereitung auf die EU-Mitgliedschaft durchlaufen haben und mit ähnlichen Schwierigkeiten und Problemen konfrontiert sind, aber auch mit den Ländern, die diesbezüglich weit fortgeschritten sind und mit ihrer langjährigen Erfahrung als EU-Beitragspartner, wie z. B. Deutschland, weiterhelfen können. Wichtige Gesprächspartner sind außerdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg. An diesem Punkt könnte die HSS ihre Hilfe leisten, um noch bessere Kontakte zu den beiden Gerichten herzustellen. Die Ähnlichkeit der albanischen Gesetzgebung mit der deutschen Gesetzgebung in einigen wesentlichen Rechtsrichtungen bleibt für uns jedoch immer eine Hoffnung bzw. Gewissheit, dass es viele Möglichkeiten für eine weitere Zusammenarbeit gibt. Der Wunsch ist groß, aber es ist uns wichtig, orientiert und konkret in Richtungen zu gehen, die gegenseitiges Interesse vertreten.

Kontakt

Leiter: Armin Höller
Südosteuropa
Leiter
Telefon: 
Fax: 
E-Mail: